Wladimir Kaminer

Heute feiert Portugal fünfzigjähriges Jubiläum seiner Nelkenrevolution.

Damals kamen die enttäuschten Rückkehrer aus dem Kolonialkrieg zurück, sie hatten keine Möglichkeit, ihre Regierung verbal über die Sinnlosigkeit der Kolonialkriege aufzuklären und gingen mit Gewehren auf die Straßen Lissabons. Der Diktator war zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile tot, seine Anhängerschaft wusste mit der Revolution nicht umzugehen. Das Volk hat die „April- Kapitäne“ mit Blumen auf der Straße begrüßt und so ist die letzte Diktatur Westeuropas, nach 48 Jahren Herrschaft, einigermaßen friedlich zu Ende gegangen.  

Ich bin nach Lissabon gereist, um an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen, neben mir saßen vier Frauen auf der Bühne, die diese Revolution persönlich erlebt hatten, eine Widerstandskämpferin, eine Historikerin und eine Anthropologin. Wir sprachen über den Charme der Diktatur. Ich bewunderte die Geduld der Portugiesen. 48 Jahren sind eine lange Zeit. Salazars Regierung hinterließ ein kaputtes Land, eine katastrophal verarmte Bevölkerung und eine Jugend, die permanent in sinnlosen Kriegen verheizt wurde. Doch viele schienen diesen Salazar zu mögen. Er kam nicht aus dem Militär, mochte mehr die Geheimdienste als die Armee, ein Zivilist, ein Buchhalter, der Jahrelang im Finanzministerium den Sessel gedrückt hatte, bevor er Diktator wurde. Ein unauffälliger bescheidener zurückhaltender Mann, kein Tribun und kein Charismatiker, der ungern vors Volk trat, seine Dienstreisen aus eigener Tasche bezahlte und sein Privatleben geheim hielt, genau wie Putin, der in die Kirche geht und stets von konservativen Werten und den Schutz der traditionellen Familie spricht, selbst aber ein geschiedener Mann ist, der seine Liebschaften versteckt und seine zahlreichen Kinder geheim hält.   

Mithilfe seiner Geheimpolizei erledigte Salazar alle seine politischen Gegner, lockte seinen Hauptfeind aus dem Ausland und tötete ihn kaltblütig. Er führte permanent Kriege im Ausland, das er nicht als Ausland, sondern als Teil seines Staates betrachtete. Er wollte, wie Putin in der Ukraine, die Angolaner und Mosambikaner mit Waffengewalt überzeugen, dass sie in Wahrheit Portugiesen sind. Sie glaubten ihm nicht und leisteten Widerstand. Fast ein halbes Jahrhundert hielt er das Land mit Angst und Propaganda fest in der Hand. Und die Menschen sagten sich, dann ist es so, wir können eh nichts tun, dann besser so als gar nichts. Und irgendwann fanden sie sogar Gefallen an seiner starken Hand, sie waren als mündige Bürger entlassen und widmeten sich dem Privatleben.

Der Charme der Diktatur besteht aus vollkommener Verantwortungslosigkeit des Volkes. Der Diktator allein übernimmt die Verantwortung. Nicht zufällig äußert der Pressesprecher des Kreml über das Privatleben des Präsidenten, er habe keine Zeit für solche Spielchen, er sei mit Russland verheiratet. Dieser Logik folgend muss der Diktator die gesamte Bevölkerung des Landes für seine Kinder halten, die er mit Mütterchen Russland gezeugt hat. Als strenger aber gerechter Vater sieht er sich in der Pflicht, diese Kinder zu erziehen und er weiß, das schlimmste, was den Kindern passieren kann, ist der Verlust des Vaters.  

Heute fragen sich viele, glauben diese Diktatoren wirklich im Ernst an die heilende Kraft ihrer Diktatur, an ihre Vaterrolle? Die Antwort ist ja, besonders wenn die Diktatoren alte weiße Männer sind. Irgendwann kommen sie alle zum Schluss, dass sie allein die Weltordnung auf ihren schmalen Schultern tragen, und wenn sie gehen, versinkt die Welt im Chaos. Sie allein sind für den Lauf der Welt zuständig, ohne ihren Einsatz werden die Sonne und der Mond nicht zeitig aufgehen, alles hier muss von ihnen in mühsamer Handarbeit gemacht werden. Ihre Bürger  halten sie für Kinder und Kinder dürfen nicht mit dem Feuer der Freiheit spielen. Wenn man sie nur lässt, werden sie sofort irgendwelchen Schurken oder Dummköpfen hinterherlaufen  und das Land geht vor die Hunde. Also wird das Volk in einem künstlichen Kinderkoma gehalten, es kann nichts und darf nichts so lange der Diktator lebt. Zum Glück wurde ein Mittel für die Unsterblichkeit noch nicht erfunden und deswegen enden die Diktaturen in der Regel  mit dem Tod des Diktators. Sie hinterlassen ein Chaos und ein kaputtes Land. Und nach einer Weile sehnen sich die Menschen wieder nach einer starken Hand. Die Tatsache, dass diese Hand für das Chaos danach verantwortlich sein wird, entgeht ihrer Aufmerksamkeit.


Die Kreuzfahrer

Ein Kreuzfahrtschiff ist eine ganz eigene Welt. Der Reisende betritt eine schwimmende Oase des Glücks mit Bar, Tanzabenden und dem reibungslosen Übergang von einer Mahlzeit zur nächsten. Und natürlich mit jeder Menge neuer Bekanntschaften. Aber auch an Land gibt es viel zu entdecken: von Putin-Schokolade in St. Petersburg, über falsche Götter auf der Akropolis bis zu verrückten karibischen Taxifahrern. Und wer könnte schöner davon erzählen als Wladimir Kaminer, Kreuzfahrer aus Leidenschaft? 

Taschenbuch | 224 Seiten | Januar 2020 | ISBN: 978-3-442-48980-0

Armee
13:15
Bahnhof Lichtenberg
5:50
Berlin
3:25
Berliner Aberglaube
3:27
Berliner Dialekt
4:32
Blut auf der Schönhauser Allee
4:31
Boney M
4:53
Boom, Baby Boom
5:10
Bücher aus dem Container
5:11
Chartuscho
7:31
Das Leben ist Bewegung
4:41
Das syreralistische Komitee zur Rettung der Welt
8:29
Dein Schatz, mein Schatz
3:44
Der Enkel des Partisanen
7:49
Der Fahneneid
9:03
Der Flaschenfisch
4:35
Der Kremlweihnachtsmann
7:26
Der Kühlschrank meiner Schwiegermutter
7:55
Der Russe lacht nicht
10:25
Der siebte Tibeter
4:29
Der Sinn des Eisfisches
7:40
Der Traumfänger
7:40
Dicke Sterne
13:36
Die Cottbuser Zukunft
6:51
Die Gender-Theorie und ihre Präsenz im Alltag
14:22
Die Helden des vorigen Jahrhunderts
7:48
Die Karottendiät
6:02
Die Läuse der Freiheit
5:56
Die Sprachkompetenz
5:04
Die Syrer packen aus
6:11
Die Telebrücke
5:42
Die Wassermelonenzeit
5:32
Döndü
4:03
Echte Russen
5:48
Ein Haus am See
9:01
Eintausend Chinesen
6:25
Epilog
2:37
Europas besserer Teil
21:01
Gagarin
4:34
Geologen
8:30
Gespräche über die Ewigkeit
4:10
Hölderlin und Hoffmann
9:15
Ich bin kein Berliner
8:06
Kafka, Konsalik und ich
4:32
Karl Friedrich
5:30
Kleine Schnecke
8:14
Kottbusser Lamm
8:23
Krim
11:37
LaGeSo
6:14
Lass uns Rennen, lass uns Reiten
14:00
Meine Frau und der Marder
9:00
Menschenrechte
3:39
Nachwort
2:36
Neue Heimat
9:35
Pheromone
4:33
Projektwoche Flüchtlingshilfe
7:12
Quittenschnaps Weikersheim
8:31
Schlechte Vorbilder
6:34
Schöne Frau, alles gut
7:22
Schröders Ruh
6:53
Schwiegermutter
4:55
Syrer in der Traumfabrik
13:58
Tolstois Bart
5:08
Tschechows Schuhe
9:29
Unbekannte fliegende Objekte
5:27
Unerwarteter Besuch
8:17
Väter und Söhne
8:36
Vegetarier an der Bushaltestelle
10:29
Verfehltes Paris
9:36
Weinanbau im Nordkaukasus
4:36
Wettbewerb
7:11